Beiträge zur Zentralasienforschung
Begründet von R.O. Meisezahl (†) und Dieter Schuh
Herausgegeben von Peter Schwieger
Band 11: Peter Schwieger: Handbuch zur Grammatik der klassischen tibetischen Schriftsprache. Zweite, korrigierte und erweiterte Auflage. 2009, 426 Seiten, 44,– Euro.
Nach tibetischer Tradition entstanden in Tibet vor 1300 Jahren zwei Werke zur Grammatik der tibetischen Schriftsprache, nämlich das Sum-cu-pa und das rTags kyi ´jug-pa, deren Autorenschaft einem tibetischen Minister des berühmten Königs Srong-btsan sgam-po zugeschrieben wird. Betrachtet man von diesen beiden sehr kurzen Schriften das Sum-cu-pa, so fällt einem die erstaunliche Modernität auf. Das Sum-cu-pa beginnt mit einer Behandlung der tibetischen Schrift, wobei eine überraschende Kenntnis der phonetischen Grundlagen schon bei der Anordnung der Schriftzeichen nach Artikulationsstellen augenfällig ist. Der zweite Teil behandelt die Morphologie, wobei grob zwischen Morphemen (phrad), die in Abhängigkeit zum Auslaut der vorhergehenden Wortes stehen (rjes-´jug la ltos-pa´i phrad rnam-dbyed dang bcas-pa) und freien Morphemen (phrad rang-dbang-can) unterschieden wird. Vorbild für die tibetischen Beschreibungen der eigenen Schriftsprache war das früh hoch entwickelte sprachwissenschaftliche Wissen der Inder, und so orientiert sich bis in die Neuzeit die einheimische tibetische Grammatik insbesondere bei der Beschreibung des Kasussystems an den in Tibet bekannten Grammatiken der Sanskrit-Sprache, wobei dieses Modell letztendlich für eine Beschreibung einer agglutinierenden Sprache wie des Schrifttibetischen schwerlich eine adäquate Grundlage bilden kann.
Die ersten europäischen Lehrbücher bzw. Grammatiken des 19. und 20. Jahrhunderts (Csoma de Kőrös, Jäschke) bis hin zum Lehrbuch von Michael Hahn orientierten sich mehr an dem Modell der lateinischen Grammatik. Eine Änderung der Beschreibung der tibetischen Sprachen zeichnete sich erst seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit den Untersuchungen verschiedener tibetischer Dialekte ab, die unter Orientierung an den Methoden des klassischen Strukturalismus deskriptiv vorgehen. Hierzu gehört letztendlich auch die Einordnung der tibetischen Sprachen in die Gruppe der Ergativsprachen mit allen Folgen für die Beschreibung der Strukturen.
Eine erste wichtige Wende in der Beschreibung der tibetischen Schriftsprache wurde durch Stephan C. Beyer 1992 vollzogen. Diese Neuorientierung wird nun fortgesetzt durch das vorliegende Handbuch zur Grammatik der klassischen tibetischen Schriftsprache von Peter Schwieger, welches sich mit seiner außerordentlich benutzerfreundlichen Strukturierung sowohl an Studenten des klassischen Tibetischen als auch an den sprachwissenschaftlich interessierten Spezialisten wendet. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass die zahlreichen mit Übersetzung Sprach- und Satzbeispiele aus quellenmäßig belegten klassischen Literaturwerken stammen. Damit wird für die nun mit Sicherheit einsetzende, weiterführende Diskussion der Besonderheiten der tibetischen Schriftsprache ein fundierter Maßstab gesetzt. Nachdem in der Tibetologie aus nahe liegenden Gründen bisher die inhaltliche Analyse der tibetischen Literatur im Vordergrund stand. gehe ich nun davon aus, dass mit diesem Handbuch die bisher stark vernachlässigte Diskussion und Analyse sprachlicher Besonderheiten stärker in den Vordergrund rücken wird. Dies wird umso mehr der Fall sein, als eine immer größer werdende Zahl tibetischer Literaturwerke inzwischen digitalisiert vorliegt, womit sprachwissenschaftliche Detailuntersuchungen sehr erleichtert werden.